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Genießer als Motoren der Evolution

Warum die Menschen sesshaft wurden

Zu Beginn der Jungsteinzeit, vor etwa 15 000 bis 11 000 Jahren, gab es in einigen Regionen einen ständigen Mangel an Jagdwild und pflanzlichen Nahrungsmitteln. Um nicht zu verhungern, mussten sich die Jäger und Sammlerinnen etwas einfallen lassen. Sie sammelten die Körner von Wildgetreide, verwendeten den Großteil davon als Saatgut und machten durch Züchtung das Korn immer ertragreicher. Gleichzeitig domestizierten sie Säugetierarten wie Rinder und Schweine und konnten sich so regelmäßig mit Fleisch versorgen. So oder so ähnlich lautet die gängige Erklärung für die "neolithische Revolution", die Erfindung und Einführung der Landwirtschaft.

Falsch...

behauptet der Münchener Evolutionsbiologe und Ökologe Josef Reichholf und führt – neben zahlreichen weiteren Befunden – zwei Hauptargumente an. Erstens sind die Körner des Wildgetreides so winzig und so mühsam aus den Spelzen zu lösen, dass der Arbeitsaufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag gestanden hätte. Mit einer Jahresernte hätte eine Familie allenfalls einige Wochen überleben, jedoch unmöglich den Winter überstehen können. Zweitens habe es gerade dort, wo die Landwirtschaft ihren Ursprung hat, im Gebiet des "Fruchtbaren Halbmonds", gegen Ende der letzten Eiszeit ein geradezu üppiges Angebot an protein- und stärkereicher Kost gegeben. "Wo der Boden fruchtbar ist, wachsen einjährige Gräser in Massen, und das wiederum ergibt bestes Weideland für jene Tiere, die die Menschen gejagt haben. Da muss es also nicht Mangel, sondern Überfluss an Fleisch gegeben haben … Es gab also keine Notwendigkeit, auf das Kauen von harten Grassamen umzusteigen."

Die sesshafte Lebensweise hätte sogar der Jagd geschadet. Jäger erbeuten erheblich weniger, wenn sie nicht mehr im Stande sind, den umherziehenden Wildherden zu folgen. Bezeichnenderweise haben die Ureinwohner Australiens sich niemals auf die Landwirtschaft eingelassen, obwohl ihr botanisches und zoologisches Wissen dafür ohne weiteres ausgereicht hätte und obwohl sie mit einer an Ressourcen knappen Umwelt zurechtkommen mussten.
Dagegen setzt Reichholf sein Gegenmodell: Getreide diente zunächst nicht in erster Linie zum Essen, sondern zum Bierbrauen! Dazu war keine große Kunstfertigkeit erforderlich. Es genügte, eine geringe Menge Getreidekörner zu zerstampfen und reichlich Wasser und etwas Speichel hinzuzufügen, und die alkoholische Gärung entstand von selbst. Dieses primitive Bier war zwar trübe und leicht verderblich, aber es schmeckte angenehm süß und war noch dazu ziemlich nahrhaft.

Erst brauen, dann Brot

"Sumerer vor einem großen Topf, die mit Rohrhalmen Bier schlürfen – das ist die älteste Darstellung, die wir überhaupt von der Nutzung von Getreide haben, während die Herstellung von Brot aus Körnern erst viel später dokumentiert ist (…) Das indogermanische Wort 'brauda' ist die Wurzel von 'Brot' und 'brauen' – aber 'brauen' ist älter", so Reichholf in einem Interview zum Buch mit der Münchener Abendzeitung.

Konsumiert wurde das Bier bei großen kultischen Festgelagen, zu denen man auch von weither anreiste. Die Gäste brachten allerlei Wildgetreidesamen mit. Aus dieser Vielfalt gingen schließlich Hybride hervor, die für einen großflächigen Anbau hinreichend ergiebig waren. Haustiere dienten vor allem dazu, das Wildbret-Angebot während der Gelage um weitere Delikatessen zu bereichern.

Womöglich wurden diese Festgelage von religiösen Spezialisten veranstaltet, die genau wussten, wie sie kollektive Rauschzustände erzeugen konnten, ohne dass das Ganze außer Kontrolle geriet. Die frühesten dauerhaften Siedlungen wären demnach aus Kultstätten hervorgegangen – und hätten schon existiert, als die Einführung der Landwirtschaft noch in weiter Ferne lag. "Alle frühesten bekannten menschlichen Bauten, wie zum Beispiel Göbekli Tepe in der Südtürkei, haben eindeutig dem Kult und damit dem Feiern von Festen gedient. Und wir haben noch einen weiteren interessanten Befund: Alle Ackerbaukulturen sind alkoholtoleranter als Jäger-Sammler-Kulturen. Das Feuerwasser hat bekanntlich den Indianern eher zugesetzt als die Gewehre. Indios und Aborigines können dagegen mit Rauschdrogen besser umgehen: mit Tabak, Hanf oder Meskalin."

Nicht der Hunger, sondern das Bedürfnis nach kollektiven Rauschzuständen stünde damit am Anfang der Geschichte der menschlichen Zivilisation. Der Hopfen, ein enger Verwandter des Hanfs, wurde ursprünglich als Rauschdroge benutzt. Zeitweise war es sogar üblich, dem Bier Bilsenkraut zuzusetzen.

Reichholfs heterodoxe Evolutionsbiologie fußt auf der Hypothese, dass wesentliche evolutionäre Errungenschaften – darunter das Fliegen und das menschliche Denk- und Sprachvermögen – nicht in der Not, sondern im Gegenteil in Situationen des Überflusses entstanden seien. Das belegt er durch eine lange Kette von Indizien auch für die Entstehung der Landwirtschaft.

Die Sache hat allerdings einen Haken. Außer im Nahen Osten ist die Landwirtschaft auch in Zentralamerika und in Nordostasien erfunden worden. Doch es hat nicht den Anschein, dass man hier Mais und dort Reis angebaut hätte, um reichlich mit Alkohol versorgt zu sein. Offenbar ist es erforderlich, Reichholfs Theorie um Überlegungen des amerikanischen Archäologen Brian Hayden zu ergänzen. Demnach war es der Statuswettstreit der Reichen, der zur Erfindung der Landwirtschaft geführt und fast alle bedeutenden Innovationen der Zivilisation hervorgetrieben hat. Immerhin deutet einiges darauf hin, dass etliche wilde Pflanzen- und Tierarten allein deswegen domestiziert worden sind, weil die Reichen unablässig auf der Suche nach prestigeträchtigen Attraktionen für ihre Festgelage waren. Was erklärt, warum der Flaschenkürbis, die Kichererbse und Chili zu den ältesten Kulturpflanzen überhaupt gehören.

QUELLEN
Spektrum der Wissenschaft 4/2009